„Die rote Olivetti“ von Helge Timmerberg

Helge Timmerberg und seine rote Olivatti © Frank ZauritzHelge Timmerberg und seine rote Olivatti © Frank Zauritz

Helge Timmerberg, einer meiner Lieblingsautoren seit vielen, vielen Jahren. Helge Timmerberg ist Journalist, Autor, Reiseschriftsteller… Ich erlebte ihn vor Jahren mit viel Vergnügen bei Dussmann und im letzten Jahr in der Backfabrik in Berlin-Prenzlauer Berg und heute ist er wieder in der Clinker Lounge zu Gast. Mit lockeren Sprüchen auf den Lippen und im Gepäck „Die Rote Olivetti“…

Wie immer wird er vermutlich einzelne Sätze aus seinen vielen Büchern zirkulieren lassen und seine Fanboys bzw. eher Literatur-Groupies werden Helge Timmerberg gebannt folgen.

Artikel von Helge Timmerberg sind in zahlreichen Zeitschriften erschienen. 2007 trat er eine Weltreise an. Er umrundete innerhalb von 80 Tagen die Welt und folgte dabei ungefähr der Route von Phileas Fogg aus dem Roman „Reise um die Erde in 80 Tagen“.

Er schrieb unter anderem die Bücher »Im Palast der gläsernen Schwäne«, »Tiger fressen keine Yogis«, »Das Haus der sprechenden Tiere«, »Shiva-Moon«, »In 80 Tagen um die Welt«, »Der Jesus vom Sexshop« und »African Queen«.

2016 geht er wieder auf Reisen, um in Deutschland und in der Schweiz sein neuestes Werk vorzustellen:

Die rote Olivetti

„Mein ziemlich wildes Leben zwischen Bielefeld, Havanna und dem Himalaja“. Piper Verlag; 240 Seiten; 20 Euro.

Eine Leseprobe – Zweites Kapitel:

»Und sehen wir uns nicht in dieser Welt …«

 Als ich aus Indien nach Bielefeld zurückkam, wusste ich also, was ich werden wollte, aber eine Gelbsucht zwang mich, die Sache zu überdenken und schließlich zu vergessen. Einen Monat darauf und inzwischen genesen, ging ich durch die Fußgängerpassage der Innenstadt an der Neuen Westfälischen vorbei, und es fiel mir wieder ein. »Geh nach Hause und werde Journalist«, hatte eine Stimme im Himalaja zu mir gesagt, und das hier war die größte Zeitung meiner Heimat. Ich zögerte keine Sekunde, obwohl meine Kleidung nicht dem Anlass entsprach. Eine weiße Baumwollhose indischen Zuschnitts, ein langes weites Hemd, Sandalen. »Was kann ich für Sie tun?«, fragte die Dame, nachdem ich drin war.

»Ich möchte Journalist werden.«

»Gute Idee, aber hier ist die Anzeigenabteilung. Die Redaktion ist im ersten Stock.«

Sie zeigte auf eine Treppe. Ich werde diese Treppe nie vergessen. Eine schmale lange Treppe, und ich nahm jede Stufe mit der Gewissheit, das einzig Richtige zu tun. Sie entließ mich in ein Großraumbüro. Ich trat an den nächstbesten Schreibtisch und sagte mein Sprüchlein. Mit einem Lächeln, das einen großen Spaß verhieß, verwies man mich zum Chefredakteur. Der saß mit der Aura eines Kettenhundes am anderen Ende der Etage in einem Glaskasten, und an der Wand hinter ihm zeigte eine große Uhr auf fünf vor sechs. Ich wusste damals noch nicht, was diese Uhrzeit in den Redaktionen einer Tageszeitung bedeutet.

»Was wollen Sie?«, knurrte er.

»Journalist werden«, sagte ich.

Ich sagte es zum dritten Mal innerhalb von zehn Minuten, und es ging bereits flott von den Lippen.

»Warum?«

Fünf vor sechs heißt fünf vor Deadline, Schützengraben, noch ein paar Minuten, und nichts geht mehr. Heute weiß ich es, damals war es Intuition. Du musst schnell sein, sehr schnell, darum berichtete ich ihm, so schnell es mir möglich war, von meiner Erleuchtung am Ganges.

»Eine Stimme hat es mir befohlen. Wer genau da sprach, weiß ich nicht, auf alle Fälle war er körperlos.«

»Eine Stimme?«

»Ja.«

»Körperlos?«

»Ja.«

»Am Ganges?«

»Ja, in Haridwar.«

»Ach so. Und welche Qualifikationen haben Sie für diesen Beruf sonst noch?«

Wir schrieben das Jahr 1971. Damals herrschte in Journalistenkreisen null Toleranz gegenüber so Ballaballa-Moden wie Meditation. Drogensüchtige und Guruhäschen waren zwar hin und wieder der Stoff für Geschichten, aber nie deren Autoren. Deshalb war die Frage aus seiner Sicht durchaus berechtigt. Was hatte ich über meine esoterischen Qualifikationen hinaus sonst noch anzubieten? Schulabschlüsse? Akademische Grade? Nun ja, die mittlere Reife hätte ich, aber nur, weil mein Vater die Rektorin flachgelegt habe. Dass dieser Kettenhundjournalist mich nicht spätestens jetzt hochkant rauswarf, hatte ich ebenfalls meinem Vater zu verdanken. Der Mann betrachtete mein Gesicht mit zunehmendem Interesse und fragte mich noch einmal nach meinem Namen. Dann war die Sache klar. Mein Vater war ein Saufkumpel des Chefredakteurs der Neuen Westfälischen Zeitung. Damit hatte ich zwar noch nicht das Volontariat, aber eine Chance.

»Schreiben Sie vier Probeartikel. Einen Sportbericht, eine Filmkritik, eine Reportage und einen politischen Kommentar. Auf Wiedersehen.«

Ich schrieb den Scheiß und hörte lange nichts von ihnen. Aber irgendwie musste ich Geld verdienen und sprach deshalb bei einem Meinungsforschungsinstitut vor, dass eigentlich immer Interviewer suchte. Sie gaben mir Fragebogen und sie gaben mir Straßen. Jeder Fragebogen hatte 32 Seiten. Sie wollten mehr oder minder alles wissen, zu dem der Mensch eine Meinung haben konnte, und auf der Rückseite des Bogens standen die Fragen zur Person, also Name, Alter, Beruf etc. Mit dem Ersten, der mich in seine Wohnung ließ, dauerte das Interview zwei Stunden, weil ich ihm wirklich jede Frage stellte, bei dem Zweiten fragte ich nur mehr die Hälfte und am Ende nur noch ein Viertel der Fragen des Meinungsforschungsinstituts ab und beantwortete die anderen später selbst. Das reduzierte die Zeit, die ich vor Ort für ein Interview brauchte, auf zwanzig Minuten. Aber das ließ sich unterbieten. Ich stellte nur noch die Fragen zur Person und betrat auch nicht mehr die Wohnung, sondern blieb dazu in der Tür stehen. Also fünf Minuten. Am Ende der Woche war es so weit, und ich klingelte nicht einmal mehr. Ich notierte lediglich den Namen, der an der Klingel stand, und wenn der Vorname fehlte, erfand ich den auch.

Die Zeit für das Selbstbeantworten der Fragen des Bielefelder Meinungsforschungsinstituts EMNID ließ sich ebenfalls optimieren, wenn man eine stereotype Vorgangsweise akzeptierte. In Arbeitervierteln wählen fast alle SPD und fahren schlechte Karren, ein paar CDUler gibt es auch, und hier und da einen von der KPD, aber keinen FDPler. Und nicht nur über die Politik, sondern auch über Wirtschaft, Kultur, Sport und das Wetter denken sie alle dasselbe. In bürgerlichen Wohngegenden ließ ich sie eher christlich-demokratisch wählen und gab einen erquicklichen Anteil Liberale hinzu. Dort las man Bücher und den Spiegel und zog für den Urlaub das mediterrane Ausland dem Campingplatz an der Nordsee vor. In den Villenvierteln dagegen schwelgte ich in meinen Träumen, und mit ein bisschen Routine schafft man auf diese Art 32 Seiten in knapp zehn Minuten. Als mir auch das zu lang vorkam, spannte ich Freunde ein. Tom und Howie waren schwere Kiffer, aber verstanden mein System sofort. Sie füllten für mich die Fragebogen im Akkord aus und bekamen von mir pro Interview zwei Mark. Mir zahlte EMNID zwölf. Angeblich beschäftigte das Institut Kontrolleure, die telefonisch bei einigen Interviewten nachfragten, ob sie von einem seiner Mitarbeiter besucht worden seien und wie lange das Gespräch gedauert habe. Aber der Schwindel flog nicht auf, im Gegenteil, man lobte mich für die außergewöhnlich gute Arbeit und bot mir eine Festanstellung an. Nicht als Interviewer, sondern im Organisationsteam, das die Trupps rausschickt, lenkt, leitet … und kontrolliert. Weil ich bis zu diesem Zeitpunkt noch immer nichts von der Neuen Westfälischen gehört hatte, nahm ich das Angebot des Meinungsforschungsinstituts an und stellte mich darauf ein, für den Rest meines Lebens die Menschheit zu verarschen. Trotzdem ließ ich die Hoffnung nicht sausen, im letzten Moment noch vom Journalismus abgegriffen zu werden, und als der Morgen meines ersten Arbeitstags in der Institutszentrale graute, bat ich ein Mädchen aus meiner Wohngemeinschaft, mich unbedingt sofort anzurufen, wenn ein Brief von der Zeitung kommen sollte. Ich ging zu EMNID, und es fühlte sich falsch an. Ich betrat das Büro, und es gefiel mir nicht. Ich wurde den Kollegen vorgestellt und ich hatte nichts mit ihnen gemein. Man zeigte mir meinen Schreibtisch, und ich wusste, dass es nicht meiner war, und kaum hatte ich mich an ihn gesetzt, klingelte das Telefon und meine WG war dran.

»Der Brief ist gekommen, Helge.«

Es war der Volontärsvertrag, und ich kündigte bei dem Meinungsforschungsinstitut noch vor der ersten Mittagspause. Meine Probeartikel hatten dem Chefredakteur also gefallen. Was hatte ich richtig gemacht? Nicht viel, nur das Wesentliche, und der Rest war Glück. Das Wesentliche beim Journalismus ist, dass man nur über Dinge berichtet, die einen interessieren. Ich denke, das ist normal, und weil das Normale automatisch funktioniert, hatte ich keine Sekunde darüber nachgedacht, für den Sportbericht ein Tischtennisturnier zu wählen. Ich war im Jahr 1967 der Tischtennis-Jugendmeister des Kreises Minden gewesen. 1968 hatte ich zu kiffen begonnen und spielte dann nicht mehr Pingpong, sondern nur noch Gitarre, und auch in Indien habe ich nicht ein Mal an der Platte gestanden, trotzdem wusste ich beim Verfassen des Probetextes noch immer ganz gut, was ein scharf gezogener Topspin beim Gegner anrichten kann. Diese Sattelfestigkeit im Thema, kombiniert mit dem Zufall, dass der Chefredakteur ein leidenschaftlicher Tischtennisspieler war, hat es mir beim Sport leicht gemacht. Ob ihm meine Kritik über den »Tanz der Vampire« ebenso gut gefiel, weiß ich nicht, aber ich hatte den Film immerhin dreizehnmal gesehen, und auch auf die Reportage über den Frankfurter Flughafen, in dem ich mir das Geld für die Reise nach Indien als Kofferträger verdient hatte, ging der Chefredakteur der Neuen Westfälischen nicht gesondert ein, als ich zum zweiten Mal vor seinem Schreibtisch stand und mich zum ersten Mal setzen durfte, nein, diesem Prototypen des ungläubigen Journalisten gefiel von den Probeartikeln ausgerechnet mein politischer Kommentar über den Vietnamkrieg am besten, obwohl der nun wirklich reine Esoterik war. Indien pur. Angeklagt sind nicht die Amerikaner, hatte ich geschrieben, und angeklagt ist auch nicht der Vietkong, nein, angeklagt ist der Krieg allein. Und die Zeit wird der Richter sein. Das hört sich gut an, ist aber, wenn man es recht bedenkt, der größte Scheiß, trotzdem hat mir wahrscheinlich dieser Satz die Tür zum Journalismus und damit zum professionellen Schreiben aufgemacht.

Schön? Dann könnt Ihr das Buch hier direkt bei Amazon bestellen:

Helge Timmerberg liest aus »Die rote Olivetti« in Berlin
Am Samstag, 19. März 2016 in Berlin. Zeit: 20:00 Uhr

Backfabrik – Clinker Lounge
Saarbrücker Str. 36-38
10405 Berlin-Prenzlauer Berg

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Helge Timmerberg liest aus »Die rote Olivetti« in Zürich
Am Montag, 21. März 2016. Zeit: 20:00 Uhr
Ort: Kaufleuten, Pelikanstr. 18 , CH-8001 Zürich

Weitere Werke von Helge Timmerberg sind im stationären Buchhandel und bei Amazon erhältlich, zum Beispiel:

Die Märchentante, der Sultan, mein Harem und ich

Der Jesus vom Sexshop

Shiva Moon – Eine Reise durch Indien